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Historiographie und Forschungsbedarf

Im Rahmen meiner Forschungen und in vielen Gesprächen wurde deutlich, dass trotz ehemaliger ideologiefixierter Geschichtsschreibung in der ehemaligen Tschechoslowakei, dem Deutschen Reich und der Bundesrepublik/DDR im Herzen Europas viele kulturelle und familiäre Gemeinsamkeiten bestanden und bestehen.
Erinnert werden soll ich hieran:

Der englische Historiker Arnold Joseph Toynbee nannte in "A Study of History" und in einem 1937 erschienenen Zeitungsartikel Böhmen „das Herz Europas“ (THE ECONOMIST, July 10. 1937, S 72).

 „… Liegt es in der Macht von Herrn Henlein und Präsident Beneš, das harte Sudetendeutschtum und das ebenso harte Tschechentum eines Tages, wenn sich der Wille zum Ausgleich auf beiden Seiten gleichzeitig zeigen sollte, miteinander zu versöhnen? Es ist eine verzweifelt schwierige Aufgabe und sie wird dadurch nicht leichter, dass man einander fortwährend provoziert. Die Weigerung, den Versuch dazu zu machen, oder ein etwaiges Misslingen müsste verhängnisvolle Folgen haben. Böhmen, wo diese beiden harten nationalen Streitkörper augenblicklich aufeinanderprallen, ist nun einmal das Herz Europas. …“

Toynbee, Arnold J.: „Das deutsche Problem der Tschechoslowakei“ in MITTELEUROPÄISCHE QUELLEN UND DOKUMENTE, Band 8, München 1938 - Dokumente sprechen. HERAUSGEGEBEN VOM SUDETENDEUTSCHEN RAT E.V. MÜNCHEN, MÜNCHEN 1938, Dokumente sprechen, 2 ., erweiterte Auflage, MÜNCHEN UNIVERSITÄTS-BUCHDRUCKEREI UND VERLAG DR. C. WOLF & SOHN 1964

So stellte sich mir die Frage immer wieder, warum die böhmisch-mährisch-schlesische Geschichte aus dem „Herzen Europas“ nicht nur in der ČSSR, sondern auch in der Bundesrepublik Deutschland, trotz vielfältiger Bemühungen aus dem Kreis der Heimatvertriebenen, an den Rand des kulturellen Gedächtnisses gedrängt werden konnte.

Beispiele für die mangelnde oder fehlerhafte Darstellung in der deutschen Historiographie sind auf Grund meiner Recherchen:

·        Hofmann & Czerny AG, Wien, Stammkapital 1,5 Mio. Kronen. Bis Ende des Ersten Weltkrieges größter Hersteller von Musikinstrumenten Europas (Lautestes Orchestrion der Welt). Gründer und Vorsitzender der AG war der aus Birkigt, Braunauer Ländchen, stammende Textilfachmann Julius Karl Hofmann. Im Verwaltungsrat befanden sich die verwandten Textilindustriellen Alfred, Igo und Anton Kluge sowie Heinrich Klazar aus der Region Trautenau.  

 

·        Dr. h.c. Igo Etrich (Trautenau/Trutnov), Textilindustrieller und Flugzeugpionier, Erfinder von z. B. „Prater-Spatz“, „Etrich-Taube“ und Technologien zur Verbesserung der Leinenverarbeitung. Zusammenarbeit mit Ferdinand Porsche, was zur Entwicklung des ersten leistungsfähigen Flugzeugmotors führte. In der „reichsdeutschen“ Geschichtsschreibung ist bevorzugt von der “Rumpler-Taube“ zu lesen. Edmund Rumpler (Berlin) produzierte die „Etrich-Taube“ zunächst in Lizenz, stellte die Zahlung von Lizenzgebühren ein und baute in großem Umfang das Flugzeug weiter. Die preußische Anerkennung des österreichischen Patents erhielt Igo Etrich nicht.

·        Die Textilindustrie in der Region Trautenau war Motor der industriellen Revolution Österreich-Ungarns und exportierte weltweit. Die Flachsbörse von Trautenau bestimmte europaweit den Preis für Leinengarn und –Gewebe. Diese Region nannte man das „Manchester des Kontinents“. Textil- und Bergbauunternehmer mit verwandtschaftlichen Verbindungen waren Etrich, Kluge, Faltis, Kaulich, Pfeifer, Siegel, Spitzer, Hofmann, Rzehak …

·        Die Medizingeschichte der Länder der Böhmischen Krone liegt in Deutschland weitgehend im Dunkeln. Selbst die älteste medizinische Fakultät im ehemaligen Heiligen Römischen Reich Deutscher Nationen ist nur spärlich präsent. Die Entwicklung der Orthopädie und der Osteopathie in Böhmen ist in der amerikanischen Literatur besser präsent, als in der einschlägigen deutschen Literatur (Siehe Buch "Böhmische Heiler").

·        Der akademische Bildhauer Prof. Robert Ullmann, dessen Vater aus Hohenelbe stammte, war Mitglied der Kunstakademie in Wien, erhielt etliche Preise und ein Ehrengrab der Stadt Wien.

·        Prof. Ferdinand Blumentritt, der „Revolutionär von Leitmeritz“, war im ausgehenden 19. Jahrhundert der weltweit bedeutendste Experte für die Philippinen. Er wurde engster Freund des philippinischen Freiheitshelden Dr. José Rizal. Mit Rizal wird Blumentritt auf den Philippinen als Nationalheld verehrt, die dort jedes Schulkind kennt. Der tschechische Botschafter in Manila bezeichnete den deutschen Leitmeritzer als „tschechischen Patrioten“.

·        Die Familie Tschinkl erweiterte den Produktionsumfang mit der in Lobositz 1856 gegründeten Feigenkaffee-, Kaffeesurrogat-, Schokolade-und Kanditenfabrik. Sie entwickelte sich als Firma „Tschinkel August Söhne“ zu den bedeutendsten Großindustriellen des Habsburgerreiches.

·        Die „tschechoslowakische Phase“ der Familien Heinrich und Thomas Mann, die für diese überlebenswichtig war, ist nur wenigen und ausgewählten Experten in der deutschen Literatur bekannt. Ohne die Erteilung des Heimatrechts in der ostböhmischen Gemeinde Proseč hätte das „Jahrhundert der Mann“ vermutlich nach fünfzig Jahren geendet. Nebenbei: Der bedeutende tschechische Literat und Vorsitzende des PEN-Clubs Karel Čapek verstarb am 25. Dezember 1938 in Prag. Der Gestapo galt Čapek als Staatsfeind Nummer 2, sein Bruder Josef Čapek, Maler und Schriftsteller, wurde bereits 1939 als einer der Ersten verhaftet, durchlitt die KZs in Dachau, Buchenwald und Sachsenhausen, bis er schließlich Anfang April 1945 im Konzentrationslager Bergen-Belsen an Fleckfieber verstarb.

 

Auf dieser Seite kann die Geschichte der Deutschen in Böhmen, Mähren und Schlesien auch aus Platzgründen nicht wiedergegeben werden. Informativ ist beispielsweise eine Seite der Österreichischen Landsmannschaft

Die Sudetendeutsche Landsmannschaft bietet folgende Seite zur Geschichte an: Historie

Weitere Beispiele könnte ich aus meinem Erfahrungshorizont nennen. In der österreichischen Literatur und in tschechischen Quellen findet sich deutlich mehr Material als in der „reichsdeutschen“ Historiographie, die von „Preußens Gloria“ nach 1866 in eine preußisch-nationale Geschichtsschreibung abglitt und die Welt des Habsburgerreiches und seiner Verbündeten im Krieg Preußens gegen das Deutsche Kaiserreich (den Deutschen Bund) in den Schatten stellte. Von erheblicher Bedeutung ist in diesem Zusammenhang seit der Romantik auch die Entwicklung des Tschechischen nationalen Mythos und die Intention der Schaffung eines weitgehend ethnisch reinen Staates.

Der Streit von Historikern ist als Machtkampf um die gestaltende Vorherrschaft im öffentlichen Raum zu begreifen und dabei vielfach abhängig von den politischen Rahmenbedingungen.

Immer wieder musste ich feststellen, dass bei der Diskussion um die Geschichte Böhmens, Mährens und Schlesiens sowie die Tschechoslowakei („Erste Republik“) ein Hang zu Gereiztheit und Rücksichtslosigkeit und der damit verbundenen Unlust, sich überhaupt auf die Argumente des Gegners, ja des Feindes genau und gründlich einzulassen, bestand.

Es liegt mir fern einem Geschichtsrevisionismus das Wort zu reden. Allerdings muss die Frage erlaubt sein: Ist „deutsche Geschichte“ eine begrenzt nationale, preußische, oder hat sie den deutschen Sprachraum südlich der Grenze des Deutschen Kaiserreiches nach 1871 gleichwertig zu berücksichtigen?

Meine These ist: Nur die Gesamtschau des deutschen Sprachraums, der Länder des ehemaligen Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nationen oder des Deutschen Bundes eröffnet den Blick auf diesen Teil der europäischen Geschichte.

Und so hat sich die nationalstaatliche (provinzielle) Historiographie, auch unter den Aspekten der Europäischen Gemeinschaft einem Veränderungsprozess zu unterziehen:

„Geschichtsbilder haben selber ihre Geschichte und befinden sich im dauernden Wandel“ (Eberhard Straub).

Zu Geschichtswissenschaftlichen Dimensionen und Fragestellungen von Familien- und Kulturgeschichte im „Herzen Europas“ mit den Veränderungsprozessen ab 1848, 1866, 1918, 1937 und 1945 finden Sie hier meine Einschätzungen: